Tactus Tacitus

Hand drawing, Silicate paint (silver) on exposed concrete, mirrors, ceramics
1790 × 750 cm
Staatsanwaltschaft Ulm, Germany

1st Prize architectural art

 

 

 

 

Tactus Tacitus

Handzeichnung, Silikatfarbe (silber) auf Sichtbeton, Spiegel, Keramik
1790 × 750 cm
Staatsanwaltschaft Ulm

1. Preis Kunst am Bau

Tactus Tacitus*

Das Werk Tactus Tacitus für den Neubau der Staatsanwaltschaft Ulm zeigt sich als prozesshaft entstandene Wandzeichnung und soll zugleich Aspekte des Gebäudes und seiner Nutzung berühren.

Im Atrium fällt Tageslicht aus dem Oberlicht auf eine hohe, zentrale Wand aus Sichtbeton, deren Herstellungsverfahren im Schalungsbild sichtbar bleibt. Ankerlöcher durchsetzen in regelmäßiger Ordnung die Wandfläche und markieren die bautechnisch gegebene Struktur der Wand. Diese Löcher sind mit kleinen Spiegeln verschlossen. Im Graugrund der Wand spiegeln sie unseren Blick in andere Richtungen und reflektieren, standortabhängig und dynamisch, winzige Facetten des Raumes – vor allem jene, an denen wir uns gerade nicht befinden, sodass sich der Raum punktuell sowohl entzieht als auch erweitert.

Ein weiteres Element der Arbeit ist ein wandfüllendes Lineament, das mit silberner Silikatfarbe direkt auf die Betonwand gezeichnet wurde. Ganz oben beginnend wurden feine Zickzacklinien in durchgehenden Zeilen auf der gesamten Wandfläche dergestalt untereinander gesetzt, dass alle Spitzen einer Zeile jene der vorausgegangenen berühren. Das stetige AufundAb der zeichnenden Hand folgte dabei nicht einer inhaltlichen Setzung, sondern glich einem Schreiben ohne offenbare Mitteilung. Aber durch die aneinander ausgerichteten Ausschläge vermittelte die Zickzackschrift ihre Verdichtungen und Unregelmäßigkeiten von einer Zeile zur nächsten. So wurde auch die architektonische Gegebenheit der Unterzüge von der obersten Zeile an die folgenden weitergegeben und prägte somit das ganze Gefüge der Zeichnung. Es entstand über die ganze Wand hinweg eine dichte Netzstruktur. Das an sich gleichmäßige lineare Zeichenverfahren erzeugte das Bild eines bewegten dreidimensionalen Vorhangs, das in wellengleichen Schwüngen aufgehoben ist. Die silbrig-changierende Farbe zeigt oder verbirgt sich vor dem homogenen Graugrund des Betons. Abhängig von der wechselnden Reflexion des Lichtes auf unseren individuellen Wegen durch das Atrium wird die filigrane metallische Linienstruktur dynamisch wahrgenommen – in veränderlicher Wahrnehmung der Wandoberfläche und der flüchtigen Bildlichkeit eines Netzes.

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. – Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art 1 (1)

Ein drittes Motiv ist Artikel 1(1) des Grundgesetzes, welcher in Blindenschrift zentral auf der Wand angebracht ist. Diese Brailleschrift wurde aus einzelnen keramischen Punktelementen zusammengesetzt und ist gut sichtbar, aber außer Greifweite, auf der Wand positioniert. Der so gesetzte Text entzieht sich sowohl dem sehenden als auch dem tastenden Lesen und Begreifen, er ist gegenwärtig, buchstäblich unantastbar, aber schweigt und bleibt, vor dem Gesetz, ohne Ansehen der Person.

* lateinisch tactus – Berührung, Tastsinn, Empfindung, Gefühl; lateinisch tacitus – verschwiegen, unausgesprochen, unbesprochen, unerwähnt