Mit der Linie im Raum - Vom Bewegen in einer Zeichnung

Katharina Hinsberg versteht sich als Zeichnerin und befasst sich daher seit Jahren mit der Linie. Diese platziert sie auf Papier, folgt ihr mit dem Messer oder hinterlässt sie im Raum. Gekennzeichnet ist ihr Werk durch einen erkennbaren Körperbezug sowie die Vorliebe, ihre Linienkunst den Ausstellungsräumen für eine begrenzte Zeit unmittelbar einzuschreiben. 

Die Linie auf Papier ist natürlich ebenfalls und immer vorhanden, wird täglich gezeichnet, ihr nachgespürt, sich ihrer vergewissert. Für die Ausstellung im Kunstmuseum Villa Zanders entwirft die Künstlerin eine in den Raum gezeichneten Linie: Beinahe immateriell schwebt die in großen Schwüngen geführte, fast einhundert Meter lange Intervention aus kleinen Kugeln durch fünf Räume. Tatsächlich hängen alle Kugeln im Abstand von 10 cm an einem Nylonfaden befestigt von der Decke.

Bestimmte wiederkehrende Phänomene kennzeichnen die ephemeren, seit über zwanzig Jahren entstandenen Raumzeichnungen der Künstlerin:

Raumbezug
Schon 2002 hat sie den Ausstellungsraum der Landesgalerie Linz bodenbedeckend mit Stoff ausgelegt und ihn dann derart zerschnitten, dass ein einziger Streifen entstand, den sie in Schlaufen an die Decke hängte. Der große Ausstellungsraum war dadurch nicht mehr auf einen Blick zu erfassen und konnte vom Besucherinnen und Besuchern nur noch als Parcour durchschritten werden. Im Kunstraum Düsseldorf (2002) sowie 2011 in Würzburg und im Museum DKM in Duisburg folgten weitere Raumarbeiten, bei denen das Bodenmaß die Grundlage für die Menge der erstellten Papierstreifen bildete, die später an der Decke befestigt wurden und das freie Durchschreiten der Ausstellung leiteten. 

Ausgehend von einer Beschäftigung mit der Architektur, der Größe und den Besonderheiten eines Ausstellungsortes entwickelt die Künstlerin ihre Arbeit, in der der Entwurf einer Linie Realisierung findet.

Transfer
Es geht ihr um einen nachvollziehbaren Transfer, die konsequente Übertragung eines Gedankens ohne sich von Fragen der Arbeitsökonomie leiten zu lassen: Häufig erfolgt ein Transfer von der Fläche in den Raum, z.B. indem Stoff oder Papier (zweidimensional) in Streifen zerschnitten und im Raum aufgehängt wird (dreidimensional). Im Falle der im Kunstmuseum Villa Zanders aufgehängten Kugellinie, die die engste Verwandtschaft mit Ich möchte eine Linie im Raum, Kunsthalle Göppingen (2019) aufweist, besteht dieser Transfer in der Verbindung einer ursprünglich auf den Boden gezeichneten Linie und eines der Länge der abgeschrittenen Bodenlinie entsprechenden, durch rhythmisches Hin- und Herbewegen auf die Wand gezeichneten Aufrisses. Die auf Boden und Wand in der Linie existenten Punkte wurden im Abstand von 10 cm zu Koordinaten für die Position einer Kugel erklärt. 

Körperbezug
Sowohl die Boden- als auch die an der Wand mit Grafit gezogenen Linien weisen einen direkten Körperbezug auf: Für die Bodenlinie hat Katharina Hinsberg die Räume mit einem durch einen Stil verlängerten Stift schwingend durchschritten. Mit dem Wissen um die Länge der durch ihre eigenen Schritte vermessenen Bodenlinie hat sie dann rhythmisch schwingende Linien auf eine Wand gezeichnet, zu deren Entstehen sie sich sowohl gestreckt als auch leicht gebückt hat. Ihre eigenen Maße, Bewegungen und Reichweite sind somit den Linien eingeschrieben, dies entspricht einem unmittelbaren physischen Einbringen in die Zeichnung.

Nachvollziehbare Arbeitsschritte 
Aus der Boden- und den Wandlinien hat die Künstlerin die Positionierung der Kugellinie konstruiert. Die Platzierung jeder einzelnen Kugel ist rational aus diesen beiden Linien abgeleitet. Keine einzige Positionierung an der Decke geschieht willkürlich. Am Aufriss ist - konzentriert auf einer Wand - jede Position ablesbar. Die von Arbeitsspuren gekennzeichnete Wand wurde weder verdeckt noch überstrichen, sondern ist Bestandteil der Ausstellung, und stellt eine technisch-funktionale Vorzeichnung dar. Der Entwurf konkretisiert sich erst im Aufbau vor Ort.

Prozessuales Arbeiten
Strukturiertes Handeln entspricht Hinsbergs geistiger Haltung. Selbst die Erstellung der Kugeln, die aus schwarzer und weißer Knete von Hand geformt sind, folgt diesem Denken. Es geht der Künstlerin darum, Bezüge herzustellen bzw. sichtbar zu machen und dabei auch Beziehungen zu knüpfen: Ehrenamtlerinnen, Kassen- und Aufsichtskräfte waren eingebunden, um im Vorfeld der Installation ca. 1000 Kugeln zu formen. Jede der schwarzweiß marmorierten Kugeln ist ein wenig anders als die nächste, allesamt winzige Skulpturen, zu denen die an der Erstellung Beteiligten eine Beziehung haben. Die Installation vor Ort ist nicht zwingend von der Künstlerin zu leisten, denn durch die klaren Vorgaben können weitere Personen in diese zeitintensive Umsetzung eingebunden sein.

Konsequenzen für die Betrachtenden
Die von Katharina Hinsberg durch die fünf Ausstellungsräume geführte, sich windende und mäandernde Kugellinie fordert von Betrachterinnen und Betrachtern, bestimmte Wege zu nehmen, bzw. vor allem, bestimmte Wege nicht zu wählen. Man kann entlang der Linie gehen, kann sich - bei hoch geführten Partien - unter der Linie hindurchbewegen und sich als von der Linie umfangen empfinden. Durch eng geführte Kurvenverläufe gibt es ein Gefühl von Innen und Außen: die Linie schließt ein oder grenzt aus, ohne eine hermetisch abgeschlossene Barriere darzustellen.

Das ist ohnehin das besondere dieser Linie: Sie ist de facto keine Linie, sondern eine Folge von Kugeln bzw. Punkten und wird im Auge des Betrachtenden erst zur Linie geschlossen. Das Verständnis einer aus Einzelteilen sich zusammensetzenden Figur kennt man aus Schnittmusterbögen, von Fahrbahnbegrenzungen u.a. Diese im Raum tänzerisch-poetisch geführte Linie wirft je nach Lichteinfall eine weitere gepunktete Spur auf Wand oder Boden, was den Eindruck von Bewegung nochmals steigert.

Gewöhnlich stellt man sich einen Raum als dreidimensionalen euklidischen Raum vor, in dem die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten durch eine Gerade hergestellt wird. Im Gegensatz dazu versteht man unter einem hodologischen Raum einen Ort, der von einem Subjekt aufgrund bestimmter Anforderungen oder Bedingungen durchschritten wird. Kurt Lewin prägte dazu den passenden Begriff des „erwegten Raumes“i, des durch Schritte ausgemessenen bzw. durch Wege erschlossenen Raumes.

Ein derartiger Weg ist nicht endgültig festgelegt, sondern variiert je nach Fragestellung bzw. gewünschter Route. Grundsätzlich gibt es ganz unterschiedliche Kriterien für das Auswählen eines bestimmten Weges, z.B. die schönste Aussicht oder die größte Sicherheit. Nicht immer stellt die kürzeste Verbindung den Weg dar, der den größten Genuss bringt.

Mit der dezenten Installation, die Bewegung und tänzerische Leichtigkeit vermittelt, fordert Katharina Hinsberg vom Betrachtenden einen rücksichtsvollen Weg zu nehmen, auf dem ein Zusammenstoß mit der Kugellinie vermieden wird. Standortwechsel sind erforderlich, permanent entstehen neue Bezüge, Sichtachsen und Beziehungslinien verändern sich im Slalom durch die relativ leeren Räume.

Die Besucherinnen und Besucher reagieren unaufgefordert und spontan mit allen Sinnen auf die Linie aus Kugelpunkten: Sie bewegen sich vorsichtiger, leiser, einfach anders als im leeren Raum und werden durch das Kunstwerk in den Bann gezogen und gestimmt. Eine nahezu feierliche, meditative Ruhe geht von der Linie aus, wenn man sich mit ihr alleine im Raum befindet.

Grundsätzlich basiert Rezeption auf optischer und taktiler Wahrnehmung, wobei der Leib als Bedingung der Wahrnehmung zu verstehen ist. Differenzierte Wahrnehmung entsteht erst durch das Bewegen. So kann sich der Betrachtende selbst als Teil des räumlichen Zusammenhangs begreifen. Das Erlebnis der Zugehörigkeit zum Kunstwerk sowie die Entdeckung, „daß das Werk ohne mich allein ist, nichts ist“, vermittelt die Erfahrung, in eine „Welt von Zusammenhängen“ einbezogen zu sein.ii

Die feine Linie ist in der Lage, alle Räume zu füllen und sich auszudehnen. Das Schwarzweiß der Kugeln – mal deutlichere, mal weniger klare Präsenz im Raum – verstärkt den Eindruck, nicht einer statisch im Raum verspannten Linie zu begegnen, sondern einer lebendigen, atmenden und sich tänzerisch durch Räume und Türöffnungen schlängelnden. Die Linie ist zart, aber äußerst präsent.

Erstmals zeigt Katharina Hinsberg in dieser Ausstellung eine Rauminstallation sowie einzelne Papierarbeiten aus den unterschiedlichen Werkgruppen in den gleichen Räumen. Das nahe Herangehen an die einzelnen Kunstwerke ist oftmals gar nicht so einfach, denn man muss sich den Weg unter oder entlang der raumtrennenden Kugellinie suchen. Zart überblendet die aus Punkten bestehende Intervention die sparsam gehängten Zeichnungen bzw. Papierschnitte. Immer bringt sie in Erinnerung, dass es in allen Werken um die Präsenz der Linie geht.

Eigentlich ist Katharina Hinsbergs Arbeit mit Grundlagenforschung im Bereich der Linie zu bezeichnen. „Ich spreche von Spuren, weil ich nicht genau weiß, wo Zeichnung anfängt und ob das schon Zeichnung ist in diesem Stadium, oder ob das überhaupt noch Zeichnung ist… Es ist Suchen, Tasten, über das Feld streifen und ausschwingen. […] Und der Rhythmus ist wichtig, das regelmäßige Geräusch ist etwas, das mich trägt.“iii

Die Künstlerin befragt Spuren, Linien und Wege und berührt dabei die grundsätzlichen Fragen nach Bedingungen und Möglichkeiten von Kunst im Allgemeinen. Und gleichzeitig erstellt sie extrem poetische Veränderungen im Raum, die den Menschen auf ganz besondere Weise mit sich und seiner eigenen Leiblichkeit und Wahrnehmung konfrontieren.

Eine Spur von Leichtigkeit und meditativer Ruhe überträgt sich in die nachfolgenden Schritte.

 

i Lewin, Kurt: Der Richtungsbegriff in der Psychologie. Der spezielle und der allgemeine Hodologische Raum. In: Psychologische Forschung Bd. 19, 1934, S. 249-299

ii Mahlow, Dietrich: 100 Jahre Metallplastik. Bronzeguß, Construction, Materialsprache, Wahrnehmung. Frankfurt/Main 1981, S. 18

iii Ausst. Kat. Katharina Hinsberg, Hors-Champ, Museum Schloss Hardenberg, 2002, S. 144

Petra Oelschlägel

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