Acht Handflächen mit gespreizten Fingern sind auf einem Steinblock zu sehen, drei vierbeinige Gestalten haben einen langen Schwanz, eine hält den Kopf schief und ähnelt einer Eidechse. Es könnten Farbabdrücke sein, die Flächen sind unregelmäßig gepunktet, die Konturen unscharf. In höherer Auflösung des Bildes gesehen, scheinen die Gestalten aus dem Stein gekratzt und geschlagen zu sein. Ihre Oberfläche ist grob gekörnt, das Material stark verwittert, daher heben sich die Formen auf der Fotografie ockerfarben vom Anthrazit des Felsens ab, wie das trockene Gras um ihn herum. „Petroglyph National Monument. New Mexico“, erläutert die Rückseite der Postkarte, es handle sich um einen von über fünfzehntausend Funden „along Albuquerque’s west mesa escarpment“.
In schwer bestimmbarer zeitlicher Ferne waren Menschen also an dieser Stelle und haben ihre Hände auf den Stein gelegt. Sie haben sich auf ihm verewigt wie ehedem die vorgeschichtlichen Menschen mit ihren Handabdrücken in Höhlen. Die Spuren sind intentionale, es handelt sich um Indices, Ikons und Symbole zugleich.
Abdrücke von Händen auf Stein zeigen und bezeugen die Tätigkeit von Menschen und stellen diese pars pro toto dar. Die Hand ist eine Sigle seiner in gestischen Vollzügen entwickelten Intelligenz. Sie verweist auf seine Techniken, auf seinen Gebrauch von Werkzeugen, deren erstes der menschliche Körper selbst ist. Die Hand fungiert als Halter, Instrument und Akteur, der auch anderes weiß als der Kopf. Auf dem Stein selbst ein Zeichen, erinnert sie an die menschliche Kommunikation mit Hilfe von solchen. Wenn die Fingerspitzen von zwei Abdrücken aneinanderstoßen, scheint dies daran zu gemahnen, dass die berührende Hand auch eine berührte ist. Und nicht zuletzt stammen die Spuren erkennbar von mehr als einer einzigen Person, denn eine der Hände hat sechs Finger. Anonyme Vorgänger von uns haben diese Bilder hinterlassen, dennoch haben sie etwas Vertrautes. Unsere Hände passen in diese Formen.
Der Legende nach hat sich die europäische Bildkunst jedoch nicht aus Handabdrücken auf felsigem Grund entwickelt, sondern aus dem Nachziehen eines Schattens. Den wirft die Sonne auf den Boden. Die Natur erzeugt das primäre Bild, veranlasst von einem Körper und dessen Stellung zum Licht. Ein Mensch sieht darin sein zweidimensionales Konterfei und hält es fest, indem er den Umriss der dunklen Fläche mit einem Stock auf dem Boden nachfährt; so die schlichteste Erzählung vom ‚Ursprung‘ der Malerei. Der römische Enzyklopädist Plinius d. Ä. überliefert sie, in den visuellen Künsten und in Schriften zu ihnen hat sie ein jahrhundertelanges Echo. Zusammen mit einigen anderen Fiktionen bildet jene Szene etwas wie das proto-konzeptuelle Fundament ‚unserer‘ bildenden Kunst.
Was wäre jedoch gewesen, wenn dem kaiserzeitlichen Naturkundler oder seinen griechischen Gewährsleuten jene Handabdrücke auf Stein vor Augen gestanden wären? Hätten dann Umrisslinien in der westlichen Kunst und ihrer Theorie vielleicht einen geringeren Stellenwert bekommen? Wären Flecken und flächige Formen als die generierenden Elemente von Malerei, Zeichnung und Skulptur angesehen worden? Hätte man die Plastik nicht vom nachträglichen Ausfüllen einer linearen Kontur mit Ton abgeleitet, wie es der Töpfer Dibutades getan haben soll, sondern von ausgeschabten Figuren auf Felsen? Wären im Fokus der Aufmerksamkeit nicht die menschliche Gestalt und das Gesicht gestanden? Wären Zeichen anderer Lebewesen gleichwertig mit denjenigen von und für Menschen gewesen? Hätte die Haptik eine gewichtigere Rolle spielen dürfen, das Greifen neben dem Begreifen? Hätte man den ‚Ursprung‘ der Kunst bei Menschen gesucht, die mit anderen lebenden Wesen kooperieren, und auch nicht nur mit ihresgleichen?
Die Postkarte mit den mexikanischen Petroglyphen begleitete ein Paket mit Katalogen, Büchern und anderem Informationsmaterial zu Katharina Hinsbergs Œuvre an die Verfasserin. Die beigelegte Fotografie ist kein Statement, aber auch kein ganz beliebiges Supplement. Denn im Hinblick auf ‚Zeichnungen‘ heute und hier sind ‚Zeichnungen‘ aus einer fremden Welt von Interesse, und dies schon deshalb, weil der Gattungsname für beide in Anführungszeichen stehen muss. Ins übliche Konzept des nachgezogenen Schattens fügen sie sich nicht. Die einen stehen diesseits, die anderen jenseits dieser dominanten Tradition.
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Gegenwärtige Künstlerinnen und Künstler können nicht umhin, sich auf den Begriff, die Geschichte und die zugehörigen Praktiken zu beziehen, in denen (westliche) bildende Kunst gedacht und ausgeübt wurde. Selbst wer nichts damit zu tun haben wollte, wäre doch ex negativo damit verbunden. Vor allem kommen sie nicht daran vorbei, wenn ihr Metier das Zeichnen ist oder von diesem ausgeht. Als hochintellektuelle Vertreterin dieses Tuns bezieht sich Hinsberg in ihren Werktiteln und Schriften immer wieder explizit auf die theoriemächtigen Anekdoten aus Plinius’ historia naturalis. Diese Mini-Erzählungen sind nicht Hinsbergs einzige Referenzen auf europäische Kunst- und Zeichnungstheorie, aber sie enthalten prägnante Äußerungen zu dem, was ein Zentrum ihrer Unternehmungen bildet: die Linie. Diesem schlichten bildkünstlerischen Grundelement gewinnt sie immer neue, überraschende Möglichkeiten ab.
Für die europäische Kunst war die Fixierung auf die gezogene Linie eine Selbstverständlichkeit. Dass die graphische Linie und damit der Umriss ihr Prototyp waren, mag sehr früh einmal mit Techniken zu tun gehabt haben, etwa mit der Vasenmalerei. In einer langen Geschichte, die das Zeichnen kultivierte und zum Kult machte, wurde daraus jedoch eine Norm, und aus der Norm eine Bürde. Immer wieder versuchten Künstler·innen, sich davon zu befreien. Seit dem achtzehnten Jahrhundert steht dies auf ihrer Agenda, notorisch wird es mit der Moderne des zwanzigsten. Offizielle Standards spielen inzwischen keine Rolle mehr, es gibt kein comme il faut des Bildnerischen, die Auseinandersetzung mit der Linie ist aber dennoch nicht zu Ende. Sie gilt nur anderen Autoritäten als externen Instanzen wie der Akademie oder kollektiven Ansprüchen an Kunst; sie hat mit anderen Kräften, kulturellen Determinanten oder Parametern zu tun, die im traditionellen Konzept des linearen Zeichnens am Werk sind und sich in zeichnerischen Praktiken fortschreiben. Projekte wie die Hinsbergs machen diese Implikationen sichtbar.
Sie beschäftigen sich mit den Voraussetzungen von Kunst und künstlerischem Tun im einundzwanzigsten Jahrhundert oder, etwas scholastisch gesagt, mit den Bedingungen von deren Möglichkeit. Dieses Fragen findet mit genuin bildnerischen Mitteln statt: mit räumlichen und flächigen Anordnungen, Farbfeldern, Rastern, Linien, Strichen, Papieren, Techniken wie Stechen, Schneiden, Kleben u.a.m. Die konzeptuellen Anliegen entstehen in ihnen und werden in den konkreten Arbeitsprozessen realisiert, sie lassen sich nicht von den händischen Betätigungen ablösen.
Hinsberg ist eine belesene Künstlerin, die ihre Unternehmungen auch in verschiedenen Formaten verbalisiert. Darunter sind Beschreibungen in Katalogen, Briefe, Antragsskizzen, eine Art Tagebucheinträge, Gelegenheitsnotizen, und – der Paratext par excellence – die Titel. Sie geben oft in subtiler Weise Fingerzeige zu Machart oder Funktion der Arbeiten. Mit Anspielungen oder Zitaten eröffnen sie um die Projekte herum kunst- und gelegentlich auch literaturgeschichtliche Echoräume. Raumgreifendes Zeichnen und Schreiben in kleinen Formen zusammen machen Hinsbergs praxeologische Poietik aus.
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Den Gedanken von Malerei als festgehaltenem Schatten ruft sie in der Wasserzeichenedition „Still Leaves (Circumstencils)“ (1997/1999) auf und setzt ihn wörtlich in die Tat um: „Weiße Papierbögen unter Buschwerk ausgelegt, sodass mit der Sonne die Schattenbilder der Blätter darauf erscheinen. In Distanz zwischen Blättern und Blatt ergeben sich Verzerrungen. Sonnenstände, die Wolken, diesig verhangen, ein kurzes Vorüberziehen, ein langes Verdunkeln (Blende). Rasches Umreißen (Entreißen) der Lichtsilhouetten und Schattengrenzen (entscheiden). Mein Blick in den Himmel oder auf das Blatt, um zu sehen, wie das Bild auftaucht. Die Schatten senken sich ab (das Erlöschen des Bildes).“ Hier wirft keine menschliche Gestalt einen Schatten, sie gerade gilt es zu vermeiden; an ihre Stelle treten Naturdinge unbestimmter Zahl und ohne Individualität. Die Schatten werfenden Körper sind dem ihre Spur aufnehmenden Grund ähnlich, Blätter stehen am Ende auf dem Blatt, grüne als schwarze auf weißem.
In der künstlerischen Tradition sollte die menschliche Figur aus dem Stein oder das Bildnis aus der Natur gezogen, ja gerissen werden; ritratto (Porträt) kommt von lateinisch trahere, italienisch trarre, ziehen, ritrarre, herausziehen, herausreißen. Hinsberg wählt ihre Worte mit Bedacht, wenn sie den Umriss mit entreißen verbindet. Das widerständige, festhaltende Gegenüber, dem sie etwas abringen muss, ist jedoch kein fester Stoff, es sind vielmehr der flüchtige Moment und die ständig wechselnde Beleuchtung. Das Bild ruht nicht in einem soliden Material, es ist auch nicht kontrastscharf wie ein Schlagschatten; eher taucht es sporadisch auf, bleibt oft undeutlich und verschwindet gleich wieder. Zwischen Erscheinen und Erlöschen muss die Zeichnerin ihm auflauern, es abpassen und entschieden zugreifen. Der Schatten des legendären Erfinders der Malerei war zuverlässiger…
Mit dem gelungenen Um- und Entreißen ist es indes nicht getan. Die Formen werden vielmehr ausgeschnitten und ins selbst hergestellte Papier eingelassen. „Wenn ich die Silhouetten als Matrize dann ausschneide und in ein Schöpfsieb lege, übertrage ich sie aus ihren Konturen ins Papier, dem sie fortan innewohnen, und – je nach Lichteinfall – auftauchen oder verschwinden. Wasserzeichen. Papier und selber Bild, wie eingesickert, transluzent.“1 Die Blätter sind nun im Blatt, dunkle Stellen nicht mehr auf dem Weiß, sondern in ihm. Wie kommt es zu dieser Versenkung des Bildes in das Papier? Wie wird es zu einer Eigenschaft des materialen Trägers?
KH: Bei der Herstellung wird das Papiersieb von einem Rahmen gehalten, der in die Papierfasermaische eingetaucht wird. Sobald das Sieb aus der Maische gehoben wird, muss sich die sehr flüssige Papiermaische gleichmäßig auf dem Sieb verteilen, während das Wasser unten abtropft. Der Papiermacher muss das Sieb (ich habe das wie einen Tanz in Erinnerung) andauernd wiegend bewegen. Die Struktur des Siebes prägt sich in der Papieroberfläche ein. Auf den Matrizen lagert sich die Maische viel dünner ab und das Blatt wird durchscheinend.2
SM: Bildende Kunst erzeugt hier ihren angestammten Träger selbst und bringt die Zeichnung nicht mehr auf dessen Oberfläche an, sondern in dessen Tiefe. Welches Bild wäre haltbarer? Diese besonderen Papiere bewahrst Du in einer Schachtel auf, im Dunkeln. Die Blätter gibt es nur zu sehen, wenn man sie herausnimmt, aber die Blätter in den Blättern sind auch dann noch verborgen; wer nicht um ihre Existenz wüsste, sähe nur weiße, stellenweise nicht ganz glatte Papiere. Ob sich das Laubwerk zeigt, hängt von der Position der Betrachter·in ab oder von der Haltung der Hand, die das Papier aus der Schachtel nimmt und hochhält. Wie die Schatten im Central Park in jenem Moment des Zeichnens, so sind auch die Erinnerungen an sie von wechselnden Umständen bedingt. Ihr Bild schlummert im Papier und erwacht unter bestimmten Voraussetzungen zur Sichtbarkeit. Still Leaves – still lifes, Stillleben, stille Blätter, noch Blätter – so lassen sich die in den Wörtern ruhenden Bedeutungen aufblättern.
Mit Wasserzeichen befassen sich nur hochspezialisierte Expert·innen der Zeichnungsforschung und Buchwissenschaft. Wenn hier eine ‚Edition‘ vorgelegt wird, scheint sich die bildende Kunst weit von ihrem Terrain zu entfernen. Sie nähert sich einer anderen Welt, in der handwerkliche Praxis und Wissenschaft konvergieren: einer radikalen Form von Editionsphilologie.
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Die Arbeit nulla dies sine linea (zuerst 1999) ruft die Devise des berühmtesten griechischen Malers, Apelles, auf. ‚Kein Tag ohne Strich‘ gilt als Bekenntnis zum täglichen zeichnerischen Üben. Hinsberg hat phasenweise auch täglich gezeichnet. Dieser Grundsatz hat bei ihr nichts mit körperlicher Konditionierung und Arbeitsmoral zu tun, sehr wohl aber mit Disziplin. Denn er fungiert als contrainte, als gewählter Formzwang, für eine spezifische Arbeit.
921 quadratische Blätter, 21 x 21 cm, sind zu einem Kubus aufeinandergelegt. Auf dem obersten verläuft eine zittrige schräge Linie, eine andere, ebenfalls unbestimmte, durchzieht von oben nach unten zwei Längsseiten des Papierstapels. Der Anfang bestand in einem Blatt, das von einer mit Lineal gezogenen Linie genau halbiert wurde. Auf einem darübergelegten Blatt wurde die durchscheinende Linie mit Hand nachgezogen, und so auf jedem weiteren Blatt. „Die Linie kopiert mithin sich selber, wiederholt und teilt ihren durchscheinenden Schatten, wobei sich die geringen Abweichungen von Mal zu Mal summieren.“3 Die Linie umzieht nicht einen Schatten. Durch das Papier hindurch gesehen ist eine Linie aus Tusche vielmehr selbst nur ein blasser ‚Schatten‘ ihrer selbst, ein Schemen. Die Hand wiederholt ihn, aus Schemen wird Linie, aus Linie Schemen, sie kopiert ihre eigene Spur, multipliziert sie.
Der Weg der Hand ist jedes Mal der gleiche und doch ein anderer, jede Wiederholung erzeugt Differenz. Am Ende sind die Unterschiede evident, aber niemand hat sie gemacht, aus der geraden Linie ist eine vielfach krumme geworden. Ihr Verlauf war nicht geplant, er ist aus dem nicht gelingenden Versuch, eine identische Linie hervorzubringen, emergiert. Die Unmöglichkeit der treuen Kopie bedeutet dabei jedoch gerade keinen Mangel, sondern eine Form erzeugende Kraft. Die Zeichnerin lässt das Verfehlen des ‚Originals‘ in der Wiederholung zu, die ‚Fehlkopien‘ sortiert sie nicht aus, sondern bewahrt, sammelt, schichtet sie aufeinander und präsentiert sie. Die Summe ungenauer Wiederholungen ergibt eine neue Form.
Mängel werden Kunst, wenn sie in eine Regel eingebunden sind, hier in die eines regelgeleiteten graphischen Aktes: „Ich ziehe die Linien im stets gleichen Modus. Abweichungen ergeben sich aus meiner Handbewegung, welche langsam ist und mit jedem Zögern, Stocken oder Atemholen den Verlauf der Linie bestimmt.“4 Was ihren Verlauf verändert, ist nicht zuletzt die Zeit. Denn je krummer die Linie, desto länger dauert das Kopieren – und desto mehr weitere Abweichungen finden statt.
Von zwei Dimensionen zu dreien: Die Linie ist am Ende auch im Raum, auf drei Flächen eines makellosen Würfels. Das Unternehmen beginnt geometrisch-optisch: Eine Gerade halbiert ein Quadrat. Und es endet stereometrisch-haptisch mit einem Kubus und Linien, die aussehen wie Risse in einem Steinblock. Die idealen Formen kontrastieren mit quasi-naturhaften, exakte Maße mit Nicht-Messbarem. Die Maxime heißt nicht korrigieren, Unvollkommenheiten akkumulieren – so lange, bis die Höhe der gestapelten Blätter Länge und Breite des einzelnen Blattes erreicht hat. Sie erheben sich auf einem Sockel als Skulptur.
Das Begleitheft zu dieser Arbeit beginnt mit der Anekdote vom Wettstreit zwischen Apelles und Protogenes um die feinste Linie.5 Die beiden Maler ziehen nacheinander, während der Abwesenheit des jeweils anderen, ihre Linie auf die vorbereitete Tafel. Es ist ein langsamer, von Pausen durchsetzter Kampf. Die erste Linie entsteht, weil Apelles nicht länger auf seinen Kollegen warten will. Und jeder weitere Akt erfordert Warten auf die Replik des anderen. Die alte Frau, allein im Haus, um die Tafel zu bewachen, hütet den Schauplatz und übermittelt Worte zwischen den Kontrahenten. Verkörpert sie die Zeit?
Der Agon endet mit einem Bild aus drei fast unsichtbaren Linien. Deren Verlauf kennt man nicht, denn anders als die Erzählung ist das Bild selbst nicht überliefert. Die besonders von Künstlern hochgeschätzte Tafel soll bei einem Brand zerstört worden sein. Die Interpretationen des Textes und die Imaginationen dieses besonderen ‚Werkes‘ durch die Jahrhunderte hindurch sind daher Legion. Hinsberg fügt den vielen Deutungen ihre Arbeit als eine weitere hinzu. Auch ihr Kubus zeigt drei dünne Linien, man kann sie aber auch als eine einzige ansehen, die sich über drei Flächen des Würfels hinzieht. Wer ihn hochheben könnte, sähe dazu noch die unterste, gerade Linie; die vier würden sich zu einer einzigen linearen Form im Raum zusammenschließen. Wenn man sie aus Draht nachbaute, wäre es ein dreidimensionales verzogenes Quadrat mit nur einer geraden Kante. Die linea summae tenuitatis hätte darin eine unerwartete, tastbare Gestalt gewonnen.
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Der Ausstellungstitel manum de tabula (2001) zitiert aus der Charakterisierung des Malers Apelles in der Naturkunde. Dieser habe, anders als sein Rivale Protogenes, der oft zu viel Mühe und Fleiß aufwandte, gewusst, wann er ‚die Hand vom Gemälde‘ nehmen musste. Apelles war ihm überlegen, denn er beherrschte die Kunst aufzuhören. Bei Hinsberg bezeichnet die Formulierung ein Prinzip, Bilder nicht malend zu produzieren, sondern durch Rahmung hervortreten zu lassen. Das Bild ist für sie nicht ein Artefakt, das post festum an der Wand angebracht wird, sondern es existiert „zwischen Bildobjekt (Gegenstand) und Wand (Gegebenheit)“. Deren materiale Beschaffenheit ist gleichwertig mit der Oberfläche des Bildes, jene macht einen Teil des Bildes aus. Für die genannte Ausstellung hat Hinsberg daher „die Schnittkanten der Gläser mit roter Lackfarbe von Hand nachgezeichnet und vor die Wände mit Raufasertapete montiert“.6 Glas schützt normalerweise ein Gemälde oder eine Grafik vor zu starkem Licht, Staub, Atem oder Berührungen, hier bedeckt es einfache Tapete. Das konservatorische Hilfsmittel macht dieses herausgehobene (und physisch erhabene) Rechteck zum Bild.
Eine Glasscheibe gehört nicht zum Kunstwerk, und das Schützen nicht zu dessen Herstellung, beide dienen vielmehr der Präsentation; sie stellen die Beziehung zwischen Objekt und Umgebung oder zwischen Werk und Rezeption her. Sie bilden Schwellen zur Öffentlichkeit, sind parergonal. Aber auch an diesen Zonen, Zwischenbereichen, Phasen im gesamten Prozess, in denen die Arbeit einer einzelnen Person an andere vermittelt wird, können künstlerische Interventionen ansetzen. Das Werk ist keines, bevor es in einem Ambiente positioniert wird; die Schwelle zu diesem Raum und zum Publikum wird hier selbst Teil des Werkes. Denn die Tapete fällt erst ins Auge, wenn sie sich hinter Glas befindet. Die Wand zeigt sich als Gegebenheit mit einer eigenen Oberflächenstruktur und damit gemäldeähnlich, wenn ein Teil von ihr in einem Rahmen erscheint. Behandelt, als wäre der Wandausschnitt eine bemalte oder bezeichnete Fläche, wird dieser zu einem Stück Malerei oder Zeichnung.
Wie kommt es zu dieser Transformation? Wie wird aus dem ‚Als ob‘ etwas Reales? Glas und Rahmen auf der Tapete zeigen, dass eine bestimmte Markierung zur Wahrnehmung von etwas als Bild führt. Aber diese Wahrnehmung bewirken nicht Gegenstände allein, Glas und Rahmen vermögen dergleichen nur als dingliche Momente performativer Akte. Sie fordern dazu auf, das markierte Feld als Bild zu betrachten, und ermöglichen dies qua Markierung. Oder umgekehrt: Sie schaffen die Voraussetzung dafür, dass Betrachter·innen etwas als ein Bild wahrnehmen können, und diese ergreifen die gebotene Möglichkeit oder nicht. In anderen Szenarien erbringen das Hängen oder das Aufstellen eine ähnliche Leistung; sie teilen den Raum ein und sorgen für dessen Strukturierung. Sie steuern, wie Besucher·innen sich darin bewegen, was sie wann und wie sehen können.
In der Ausstellung mit dem Titel Die Annahmen der Linie (2005) löst Hinsberg den Rahmen von der Wand und errichtet ihn mitten im Raum: Der Rahmen besteht aus einem roten Band und reicht vom Boden bis zur Decke. Damit ist er genauso hoch wie die zwei Zeichnungen (3,86 x 2,30 m) an den einander gegenüberliegenden Wänden. Zwischen Rahmen und Zeichnungen besteht der messbaren Größe nach kein Unterschied, aufeinandergelegt wären sie deckungsgleich, aber wenn die Zeichnung durch den Rahmen hindurch betrachtet wird, ergeben sich dank perspektivischer Wahrnehmung an allen vier Seiten Abstände zwischen Rahmen und Zeichnung. Diese sieht aus wie aufgezogen auf einen andersfarbigen Grund und wie von Rand umgeben. Bei den ‚Annahmen der Linie‘ handelt es sich offenbar um die Linien, die der Raum (vor)gibt und die für Künstlerin wie Rezipient·innen Gegebenheiten ihres Sehens darstellen. Beide ‚empfangen‘ Rahmen, Rand und damit die Bildhaftigkeit der Zeichnung vom imaginären Liniennetz der Perspektive. Die Künstlerin tut nichts, als eine einzelne Linie in diesem dreidimensionalen Raster farbig hervorzuheben.
‚Annahmen ‘ sind aber auch Vermutungen, Mutmaßungen, Hypothesen, und das Syntagma ‚der Linie‘ ist dabei erneut ein Genitivus obiectivus: Sehend vermutet man die Linie als Bildrahmen, obwohl sie über zwei Meter von beiden Bildern entfernt ist und mit ihnen physisch nichts zu tun hat. Wer die Gegebenheiten der Wahrnehmung akzeptiert (annimmt), anstatt sie mit Rekurs auf die physischen Tatsachen als Täuschung zurückzuweisen, nimmt auch an (vermutet), dass Zeichnungen, Raum und Band ein Ganzes darstellen, das sich in der Perzeption zu einem stimmigen Eindruck zusammenschließt: zu dem von einem breitrandig gerahmten großflächigen Bild mitten im Raum. Das doppelte ‚Annehmen‘ wird belohnt: mit zwei Bildern dieser Art.
In all diesen Fällen besteht die künstlerische Arbeit nicht darin, Dinge anzufertigen, sondern darin, Situationen zu schaffen, die bestimmte Wahrnehmungen erlauben. „Hände vom Bild“, wie Hinsberg übersetzt, heißt nicht mehr, ein Gespür dafür haben, wann Sorgfalt in Pedanterie umkippt; sie hat weder mit dem Sensorium noch dem Ethos des produzierenden Individuums zu tun. Manum de tabula bezeichnet dagegen eine Strategie, die auch über die Ausstellung mit diesem Titel hinausreicht. Denn zunächst gemahnt die Formel an den Verzicht auf das Tafelbild. Seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts haben sich Künstler·innen immer wieder diesem Prinzip verschrieben und realisieren es in höchst unterschiedlichen Weisen.
Eine ist die Wendung zur Arbeit in situ. Viele von Hinsbergs Projekten sind ortsspezifische Installationen. Die Zeichnung bleibt nicht länger in der Fläche, die Linie drängt auf vielfältige Weise in den Raum. Diese Arbeiten wenden sich nicht mehr nur an den Blick, sondern auch an Haptik und Motorik, sie wollen mit dem Raum zusammen gesehen werden, wobei schon eine Glasscheibe an der Wand aus einem Bild einen Gegenstand mit Volumen macht. Auch die Dicke eines Blattes Papier bringt die dritte Dimension zur Geltung; multipliziert wird aus einem Blatt mit einer dünnen Linie irgendwann ein Kubus. Linienzeichnungen nehmen Form und Gewicht solider Körper an. Nicht zuletzt hat das Papier Konturenbilder in sich aufgenommen – all das sind ‚Annahmen der Linie‘.
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Ajouré heißt eine Serie von Licht und Schatten choreografierenden Papierschnitten, die seit 2006 entstehen. Es sind höchst fragile weiße Blätter auf weißem Grund. Ein gleichnamiges Buch reproduziert (in bester fotografischer Qualität) fünfunddreißig derartige Arbeiten.7
SM: Bei manchen gibt es Farbeffekte: Gelblich, Rosa, Bläulich auf Weiß und Grau… Morandi-Töne.
KH: Tatsächlich erscheint mir das Papier selbst, in seinen unterschiedlichen Reflexionen, zum ersten Mal farbig. Morandi ist mir auch wegen seiner thematischen Wiederholungen wichtig, ebenso wegen seiner Linien-Zeichnungen, welche die Darstellung umreissen, aber nicht abschließen, sodass ‚Fehlstellen' entstehen, welche die Grenzen zwischen Gegenstand und Umgebung in eine offene Vagheit entlassen.
SM: Ich frage mich, wie die Ajourés gemacht sind: mit Vorzeichnungen und kleinen, extrem scharfen Messerchen? Und wie viele Du tatsächlich zu Ende bringst, ohne dass einer der schmalen Stege reißt. Sicher fordert diese Tätigkeit größte Konzentration und Aufmerksamkeit. Sobald man müde wird, droht der Fehler, und damit das Risiko, alle geduldige Mühe in einem einzigen Moment zu verlieren. Überhaupt: Wie vermeidest Du Fehler? Es gibt hier keinerlei Korrekturmöglichkeit.
KH: Meine Papierschnitte entstehen mit einer sehr spitzen Klinge, unter einer Lupe. Bei diesem Schneiden vergrössert sich der Arbeitsraum unter der Lupe, und der ganze Umraum scheint sich im Brennpunkt, dort, wo ich schneide, zu konzentrieren. So sehe ich das Papier als Körper und die Löcher als kleine durchlässige Zellen. Durch Drehung des Papiers stehen die Schnittflächen in unterschiedlichen Winkeln zueinander und reflektieren das Licht unterschiedlich, was Flächen bzw. das Netz der Stege, je nach Betrachterstandpunkt, heller oder dunkler erscheinen lässt.
Das Ganze lebt sehr stark von Abweichungen und Unregelmässigkeiten. Die Frage ist aber immer wieder, wie lange sind die Abweichungen noch Teil eines maßgeblichen Musters und ab wann sprengen sie dieses. Fehler werden ja erst in ihrer Abweichung und in der Unterscheidung zu ihrer Umgebung zu dem, was sie sind. Die Korrekturmöglichkeit besteht darin, das Muster zu erweitern, oder über die absichtliche Wiederholung der Fehler eine erweiterte Musterhaftigkeit herzustellen und die Fehlerhaftigkeit darin aufzulösen. Andere Fehler, kleine durchschnittene Linien etwa, werden durch das Netz aufgefangen, welches in sich stabil bleibt, selbst wenn Elemente fehlen.
SM: Hier liegt eine eher seltene Umkehrung des Verhältnisses von Linie und Fläche vor: Eine multiplizierte Linie – hin- und wider-, um und gegen sich selbst geführt, oder die materiale Linie des Fadens, um sich oder ihresgleichen geschlungen – erzeugt eine Fläche. Hier dagegen wird eine Fläche so lange durchlöchert, aufgeschnitten, zersetzt, bis sie nur noch aus Linien- oder Punktmustern besteht. Es erinnert an Techniken der Spitzenherstellung: Gewebefäden werden so gebündelt oder zusammengeschnürt, dass sie Öffnungen freigeben.
KH: Ja, die Fläche wird von Schnitten und Löchern durchbrochen. Die Linien verdichten sich nicht zu einer Fläche, sondern die Fläche reduziert sich durch ihre Löcherung, bis die Linien stehen bleiben. Bei der Spitzenherstellung gibt es verschiedene Verfahren: das Klöppeln der Fäden, um die entstehenden Löcher herum, und das Fadenziehen/Umsticken in einem fertigen Gewebe. Auf die Ajour-Stickerei bezieht sich der Titel.
SM: ajouré: durchtagt, gefenstert….
Stickereitechnik, bei der eine Durchbrucharbeit entsteht; Durchbrucharbeit, bei der durch Ausziehen, Ausschneiden und Umsticken von Fäden eines Stoffs ein bestimmtes Muster entstanden ist. – Der Leinendurchbruch entspricht dem Hohlsaum. Ein einfacher Durchbruch heißt punto tirato, ein doppelter punto tagliato, beide heißen point coupé.
Die Papierschnitte sind lignes coupées.
Sie erzeugen Effekte von Bewegung und Räumlichkeit: Vorhang im Luftzug – so scheint es zuweilen, und dabei liegt doch alles in der Fläche. Bei genauem Hinsehen aber zeigen sich kleine Abstände zur Unterlage und minimale Aufwölbungen und Wellungen des flachen Objekts.
Mit welcher Dimension hat man es zu tun? In der Mathematik gibt es die Linien mit mehr als einer und weniger als zwei Dimensionen sowie Flächen-Gebilde mit mehr als zwei und Körper mit weniger als drei Dimensionen. Das Wort ‚Körper‘ wirkt bei diesen Blättern unpassend.
KH: Für mich ist spannend zu sehen, wie sich über die Wiederholung eines Musters, durch seine händische Ausführung, Verschiebungen einstellen, welche den Eindruck einer dreidimensionalen Darstellung, das Bild eines Vorhangs, erzeugen.
SM: Spitzenvorhänge dienen dazu, das Licht abzuhalten, zu dämpfen, zu brechen, man fokussiert auf die Fäden statt auf das Leere dazwischen, auf den Schutz vor der Helle, und auch vor den Blicken anderer. Hier geht es um die gegenteilige Operation: Der ‚Tag‘ kann durch die Öffnungen hereintreten. Und Blicke sind umso neugieriger, je mehr Maschenwerk sich vor sie schiebt, ohne sie ganz auszuschließen. Die Erotik der Spitze, das voyeuristische Moment… Das fehlt hier ganz. Gleichwohl müsste eine Ausstellung eine sehr ‚intime‘ Situation schaffen, damit die Arbeiten so nah betrachtet werden können, wie sie es erfordern.
Sind diese Dinge eigens zur Präsentation in einem Buch gemacht? Es sind selbst Blätter oder etwas, was man gern zwischen die Blätter eines Buches legt.
KH: Es gibt eine gewisse formale Nähe zu den handgeschnittenenen oder gestanzten Andachtsbildchen, welche gerne in Gebetsbücher gelegt wurden.
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„Im Spätsommer, jährlich um den 12. August, erscheinen aus dem Sternbild des Perseus die Perseiden: unzählige Sternschnuppen. Später dann die Schwärme der September-Perseiden, allesamt Reste des Kometen 109P/Swift-Tuttle. Ich verschränke diese Meteoriten mit dem französischen Wort percer für bohren oder stechen – in der wörtlichen Nachbarschaft von percevoir für sehen und wahrnehmen. Alle meine gebohrten Bilder gehören zu der Werkgruppe der Perceiden.“8
Die bei der Ausstellung Interpunktionen und in der zugehörigen Buchpublikation Vorzeichnungen eines Bildes genannte Arbeit verbindet beidhändiges Linienziehen auf der Wand und Verfahren des Bohrens: Großräumige Bewegungen mit zum Abrieb präparierten Fingerkuppen hinterlassen mehrspurige Linien aus Wachsfarbe. Eine derartige Zeichnung wird an der Wand in übereinander gehängte Papiere, also gleichzeitig in mehrere Blätter, gebohrt. Die Linien aus Löchern – Punktlinien – sind unregelmäßig stark: Breiteren Strichen entsprechen größere Löcher, an dunkleren Stellen verdichten sich die Bohrungen. Nach den Perforationen werden die Papierschichten getrennt, vertauscht oder gedreht und erneut, nun einer anderen Zeichnung folgend, durchbohrt. Der gleiche Vorgang findet mehrfach statt. Die Unterscheidung von Vor- und Nachzeichnung, von Entwurf und technischem Transfer – traditionell von Original auf dem Papier und Übertragung auf die Wand – löst sich dabei auf. Die Papierbahnen werden schließlich an der Wand arrangiert, wobei die Lochmuster eines Papiers sich auf einem anderen oder direkt auf der Wand fortsetzen können und umgekehrt.
Die Arbeitsschritte unterscheiden sich stark voneinander: „Im Gegensatz zur Schnelligkeit und Freiheit des Zeichnens ist das kleinteilige, sorgfältige Bohren langsam und mühsam und lässt sich nicht beschleunigen.“9 Hinsberg macht es auch nicht allein; nicht nur eine Maschine, auch mehrere Akteur·innen kommen zum Einsatz. Was zunächst unmittelbarste körperliche Signatur ist – kein Instrument tritt zwischen ziehende Hand und Spuren aufnehmenden Grund –, verliert auf diese Weise seine Bindung an eine bestimmte Person.
KH: Gezeichnete Linien gelten im Westen als Träger von Ausdruck und Individualität. Man setzt künstlerischen Ausdruck mit Expression von Gefühlen auf eine simplifizierte Weise gleich: Das Gefühl des Künstlers/der Künstlerin im Moment des Zeichnens wird oft in der Spur gelesen/in die Spur hineingelesen: rasche nervöse Linie, zarte schüchterne Linie, wütende Hiebe, suchende unsichere Linie… Es gibt die Erwartung an den Künstler/die Künstlerin, genau das zu liefern. Eine „Fetischisierung von Expressivität“.10 Das Lesen der Linie wird zum Nach-Lesen, zu vermeintlichem Nachspüren künstlerischer Gestimmtheit. Indem ich meine Linien ausschneide – durchbohre, übertrage –, eliminiere, lösche oder transformiere ich die Lesbarkeit der Linien als Spur. Die Löcher machen die Bilder durchlässig für andere, wechselnde, gegenwärtige Kontexte.
SM: Die unerwarteten Kopplungen von Händisch-Gestischem und Konzeptuellem oder die von relativ freier körperlicher Bewegung und ‚demütig‘ nachvollziehendem Tun mit der Maschine fordern in der Kunsttheorie übliche Unterscheidungen heraus.
Neben den Beziehungen zu Karton, Stich, Druck-Graphik, (Alberti’scher) Punktlinie, hüpfendem (statt reisendem oder spazierendem) Punkt tun sich Verbindungen zu Lesen, Schreiben, Buch auf: Die Interpunktion strukturiert Sätze, und zwar in genau geregelter Weise. Hier dagegen verliert das Wort seine Konnotation mit geltenden Vorschriften, während die Verfahren dieser Arbeit an Strenge nichts zu wünschen übriglassen. Die Papierlagen haften dank Durchbohrung ohne Bindung aneinander, weil die Fasern sich ineinander verfilzen. Ein Buch besteht aus aufeinandergeschichteten Papieren. Um sie durch Binden statt Kleben zu fixieren, werden sie durchbohrt, und durch die Löcher Fäden gezogen oder, bei stärkerem Material, Drähte oder Metallklammern. Die Linien aus Löchlein, die sich wie Sternschnuppen im freien Flug über die Wand ziehen, lassen an Mallarmé denken: an die ‚Urszene‘ moderner visueller Dichtung Un coup de dés n’abolira jamais le hasard. Das Poem ist über mehrere Doppelseiten verteilt, mit enorm viel Weißraum um die einzelnen Wörter. Die Anordnung der Schrift auf der Fläche gemahnt an Sternkonstellationen – älteste Bilder, die von je helfen sollten, mit den Kontingenzen menschlichen Lebens fertig zu werden. Auf den Buchseiten bleibt kein Detail dem typographischen Zufall überlassen. Ähnlich sind in den Vorzeichnungen/Interpunktionen die losen Schwünge der Hände in rigiden Nachvollzug übersetzt, und doch gehen die Linienbilder aus unabsehbaren Überlagerungen von Mustern hervor.
KH: Mich interessiert in diesem Zusammenhang eine antike Legende zur Entstehung der Sterne als Löcher in der Membran des Himmels.11
SM: Percer, piercen: Papiere und Wand sind Häute. Die Wachshaut auf den Fingerspitzen hat die ersten Spuren erzeugt; sie sind porös, haben schon von sich aus eine löchrige Struktur. Einige Papierhäute lassen sich abziehen, die Wand dagegen behält ihre Tätowierung.
KH: Vorstellbar ist auch, die Papiere untereinander durch neuerliches Bohren, zunächst ohne Bezug zu einer Wand, weiter miteinander zu verschränken.
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Zeichnungen sind außerordentlich schwer zu reproduzieren, sie können auf Fotografien so viel verlieren, dass man sie lieber gar nicht als derart verarmt sehen möchte. Das gilt auch für diese mit der Zeichnung experimentierenden Arbeiten. Und im besonderen Maße für die Diaspern genannten. Sie scheinen längere oder kürzere rhythmische Striche auf Papier zu zeigen, tatsächlich aber sind es Papierschnitte besonderer Art. Sie bestehen immer aus zwei Blättern: Eines wird mit Grafit bezeichnet, ein zweites liegt darunter; die grafischen Spuren werden aus diesem Doppelblatt ausgeschnitten, dann beide Papiere voneinander gelöst und mit der Benennung 1 und 0 nebeneinander gehängt. Diaspern sind Zwillingsbilder mit jeweils genau gleichen Verläufen und Verteilungen von fadenartigen Formen oder kurzen Markierungen. Dabei wecken sie Erinnerungen an Natur; eines scheint ein Diptychon von Gras, ein anderes heißt Grosser Regen.
Ihre Entstehung sieht man ihnen nicht an: Das Zeichnen geschieht in der Horizontalen auf einem Tisch, bei größeren Formaten senkrecht an der Wand, manchmal mit nur einem Stift, in anderen Fällen mit beiden Händen, gleichzeitig oder abwechselnd, in wieder anderen kleben Graphitminen an den Fingern einer Hand der Künstlerin oder auch an denen beider Hände. Die Ergebnisse hängen von der Bewegung der Finger oder dem Öffnen und Schließen der Hand ab, der Daumen spielt dabei seine besondere Rolle. Gelegentlich verlängert auch ein Stab die Reichweite. Das Schneiden beginnt in der Mitte, das verringert die Gefahr für das immer fragiler werdende Papier. Hinsberg hockt, kniet, sitzt, kriecht, liegt dazu auf dem Blatt, genauer: auf einer schützenden Papierschicht. Der Vorgang kann je nach Größe bis zu mehreren Tagen dauern. Meistens aber entstehen diese Arbeiten wegen des aufwendigen Schneideprozesses in einem längeren Zeitraum neben anderen her. Als müssten die Öffnungen wachsen – wie Gras.
Die Künstlerin schneidet jeweils zwei Blätter, behandelt die aufeinander liegenden Papiere mithin als eines. Sie gehören zusammen. Dann erfolgt das Trennen. Üblicherweise schneidet oder zerreißt man ein Stück Papier der Länge oder Breite nach, quer zu seiner Dicke oder ‚Höhe‘, hier geschieht es parallel dazu. Das bearbeitete Doppelblatt wird auseinandergenommen wie ein mehrlagiges Papiertaschentuch, bei dem die einzelnen Schichten, hauchdünn und leicht, dann alle die gleichen Prägungen und Knicke haben; hier weisen die Blätter die nämlichen Öffnungen auf.
Die Richtung dieses Tuns ist so unselbstverständlich wie das Spalten einer Linie der Länge nach. Apelles’ erste feine Linie wird noch zweimal gesplittet, denn die Linie seines Rivalen und seine eigene zweite werden jeweils in die erste gezogen. Aus einer Linie werden drei, es sind drei und doch eine; Claude Mellan erkannte darin ein Symbol der Trinität. Bei Hinsberg werden aus einer Zeichnung zwei gleiche, jeder Schnitt hat sein Double. Die Papiere hängen als Paare nebeneinander, die getrennten Unzertrennlichen atmen im gleichen Rhythmus.
Der Name Diaspern kommt von einer Bezeichnung für Textilien, die einfarbig, aber durch verschiedene Webstrukturen gemustert sind. Das Wort wurde mit Rekurs auf die griechischen Wörter dis (zweifach) und aspros (weiß) als ‚doppelt weiß‘ gedeutet, eine andere Erklärung führt es auf das griechische Verb diaspao (ich trenne) zurück und bezieht dies auf die Verarbeitung der Fäden. Für Hinsbergs Arbeiten passt beides: Sie gehen aus dem spezifischen Akt des Trennens von Papieren hervor, und das Resultat sind doppelt weiße Arbeiten: Blätter mit Lochmuster und minutiösem Relief auf weißem Grund.
Die Löcher im Papier werfen Schatten auf die Wand hinter ihnen. Erneut sind die Öffnungen die dunklen Stellen, aber Lichteinfall und Perspektive modifizieren sie. Dabei kehrt sich die traditionelle Beziehung zwischen Schatten und Zeichnung um: Nicht der Körper wirft den Schatten, sondern die Stelle, wo keiner ist; und die nachziehende Hand schafft eine dreidimensionale, negative Form. Das Spiel von Körper, Licht, Schatten, emergenter und erzeugter Form ist komplizierter als in der traditionellen Legende.
Auch der Abstand zur Wand wirkt mit: Wo die Papiere dicht auf der Wand aufliegen, entstehen opake weiße Stellen, die wie Wolken oder Nebelschwaden aussehen; oder wie Spuren von weichem Radiergummi auf einer Bleistiftzeichnung. Der Grafit wird hier blasser oder ist scheinbar gelöscht, tatsächlich vereinen sich jedoch weißes Blatt und weiße Wand zu einer indifferenten Erscheinung. Wo die Löcher sind, zeigt sich der Untergrund, er füllt die Öffnungen wieder. Es ist ein Spiel nicht zwischen Absenz und Präsenz, sondern zwischen sichtbarem und unsichtbarem Fehlen, von wahrnehmbarer und dem Blick wieder entzogener Absenz.
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Hinsberg gestaltet Räume, aber Installationen sind für sie kein Dogma, sie koexistieren auch mit dem klassischen Modus der mobilen, umgrenzten Fläche. In der Ausstellung Still Lines (2022) in der Villa Zanders hängen von der Treppe lange, schmale Streifen, und eine Linie windet sich durch mehrere Räume, während sich an den Wänden entlang bildartige Objekte mit und ohne Rahmen reihen.
Wer das Foyer auf der ersten Etage betritt, steht einer orangeroten Kaskade gegenüber: der Installation Scala. Von den Stufen tropft, so scheint es, Flüssigkeit in dünnen Strähnen herunter, und auf dem Boden sammeln sich Lachen. Durch den rieselnden Vorhang hindurch fällt Licht von den Fenstern, nach hinten zu, in die Tiefe des Raumes, aber verdichtet er sich. Im Bereich der unteren Stufen nimmt das Orangerot zu. Was hier rhythmisch, mit kleinen Schwüngen, herabrinnt, ist jedoch kein Wasser; es sind Papierstreifen. Durchgefärbte DIN-A4-Blätter wurden dafür hochkant jeweils von links und rechts her eingeschnitten. Dabei gibt es keine Differenz von Figur und Grund, aus der Fläche werden Streifen oder Linien ohne Träger; sie sind positive und negative Form zugleich. Aufgehängt nimmt sich ein derart zugeschnittenes Blatt wie eine Kette geschweifter Klammern aus, die sich abwechselnd öffnen und schließen. Am Boden fallen die Streifen, wie es gerade kommt, übereinander und bleiben so liegen.
Die Linie, die einige der Ausstellungsräume durchzieht, spielt auf andere Weise mit Raum, Körperlichkeit, Gewicht, Transparenz, Helldunkelkontrasten und Farbeffekten. Optisch besteht sie aus einer Reihe von Punkten, tatsächlich aus schwarz-weiß marmorierten Kugeln, die an Nylonfäden von der Decke herunterhängen. Sie ist tast- und spürbar, man geht unter ihr hindurch, zuweilen muss man sich bücken, um nicht anzustoßen. „Die Kugelpunkte werden geknetet, sie bleiben weich und formbar. Das Material kommt für die Ausstellung zu einer bestimmten, temporären Form. Jede Kugel wird von Hand geformt, kleine Plastiken, immer nur ungefähre Kugeln, eher Bollen als geometrische Körper. Die Kugeln werden anschließend wieder zum ursprünglichen Roh-Material, das auf eine neue Formfindung wartet – Werk nur für die Dauer des gegebenen Kontextes.“
Die Kugeln sind an den Fäden festgemacht; in ihrem handgemachten Innern befinden sich vorgefertigte kleinere Kugeln, die aus dem Anglerbedarf stammen. Die Fäden selbst sind oben mit „speziellem Malerklebeband befestigt. An der Decke entsteht so eine weitere, funktionale Linie aus Klebebandstreifen.“
So viele Kugeln in wellig bewegter Horizontaler durch die Räume schweben, so viele vertikale Fäden hängen herunter: ein weiterer zarter Vorhang, diesmal aus feinsten Linien. Sie sind glasig, schimmern im Licht, schwingen mit dem Luftzug. „Die Linien bewegen sich leicht, wenn man sie z.B. anpustet. Wenn man sie anschubst, kann es passieren, dass sich mehrere Kugeln an ihren Fäden miteinander verzwirnen und Trauben bilden.“
Der Kugel-Linie kann man mit den Augen und den Schritten folgen, um den Wasserfall aus Papierstreifen kann man herumgehen; den Bildern an der Wand nähert man sich dagegen nach und nach mit dem Blick, beugt sich zu ihnen hin, und entfernt sich wieder. Jedes will einzeln im Detail betrachtet werden, jedes verlangt Zeit und Konzentration, damit sich die Fülle seiner Nuancen entfaltet.
Die Linie markiert keine ideale Besichtigungsroute; sie durchzieht nur einen Teil der Räume und „schiebt sich – je nach Betrachterstandpunkt – auch vor die Bilder an den Wänden.“ Keine Anweisung also, kein Leitsystem. Sie beansprucht vielmehr das gleiche Interesse wie die Arbeiten in der Vertikalen.
Wie kommt sie zu ihrem Verlauf? Wie konzipiert man eine Linie in drei Dimensionen? Hinsberg tut es in der Villa Zanders nicht zum ersten Mal. „In der Ausstellung Ich möchte eine Linie im Raum12 hatte ich je eine Linie an Wand und Boden gezeichnet, aus denen ich die dritte konstruiert habe. Nicht nach Koordinatensystem, sondern indem ich, auf der Basis der horizontalen Bodenlinie, punktuell die Höhen der Wandlinie lotrecht ‚in den Raum‘ eingemessen habe.“ Eine Alternative besteht darin, „eine Linie andernorts zu zeichnen und dann über Maßpunkte in die Ausstellungsräume zu transferieren.“ Auch die Kugel-Linie in der Villa Zanders leitet sich aus mehreren Linien an Wand, Boden und Decke her, die sie vorbereiten und zum Teil weiter begleiten. Diese Linien „haben unterschiedliche konstruktive, funktionale, visuelle Eigenschaften, die sichtbar oder fast unsichtbar gemacht werden.“ Die auf den Boden gezeichnete Linie ist am Ende verschwunden, ihr via Laser erzeugtes Pendant an der Decke indes bleibt. Die Linien an der Wand stellen einen Aufriss dar. Sie bestimmen die Höhe jeder einzelnen der über achthundert Kugeln. Welchen Weg die Linie aber tatsächlich durch die Räume nimmt, ist dabei nicht absehbar; er ergibt sich erst bei der praktischen Anfertigung.
Die Linie wirkt wie eine aus Tropfen; die ephemere Wasserskulptur, die der Schwung eines Gartenschlauchs hervorbringt, scheint in der Luft festgeworden zu sein. Für die Betrachter·innen formt sich die Linie aus Kugeln und löst sich wieder auf, je nachdem, wie sie sich herumbewegen. Sie demonstriert ad oculos, dass sich diskrete Punkte in der Wahrnehmung zu einer durchgehenden Erscheinung zusammenschließen. Derart beschwört sie – wie jede Linie – Kontinuität, Kohäsion, Konnexion. Sie führt aber genauso vor, dass das optische Kontinuum zerfällt, wenn man sich ihr nähert. Was aus bestimmten Blickwinkeln stetig scheint, ist nichts dergleichen. Die Kugeln hängen auf Abstand von immer gleicher Größe. Wo auch immer sich Besucher·innen im Raum befinden, sehen sie einzelne Punkte und bestenfalls ein Stück Linie. Sobald sie dieser folgen, zersetzt sie sich, und dies umso mehr, je näher sie ihr kommen. Stetig und kontinuierlich ist dagegen das fast Unsichtbare, der einzelne vertikale Faden.
Die Linie durch die Räume zeigt sich als solche und zerfällt. Auch die ausgeschnittenen Papier-Linien auf weißem Grund an den weißen Wänden bewegen sich an der Grenze des Sichtbaren. Wie die Tafel der beiden konkurrierenden Maler sind die Bilder „gleichsam leer, locken aber gerade darum an“.13
Die drei Linien des legendären Wettstreits sind der Erzählung nach visum effugientes. Katharina Hinsberg hat hier ein weiteres Mal Linien geschaffen, die „sich dem Blick entziehen“ und ihn zugleich fesseln.
1 Beide Zitate Katharina Hinsberg: Die Annahmen der Linie, edith wahlandt galerie, Stuttgart 2007, 25.
2 Die mit den Initialen KH und SM gekennzeichneten Passagen gehen auf einen Mailwechsel zwischen der Künstlerin und der Verfasserin des Textes zurück, Zitate ohne Angaben stammen von Hinsberg.
3 Katharina Hinsberg: nulla dies sine linea, Publikation zum Symposion Werksicht, Galerie im Stifterhaus, Linz 1999, o.P., © Katharina Hinsberg 1999.
4 Die Annahmen der Linie, 84.
5 Vgl. Plinius d. Ä.: Historia naturalis (Naturkunde), 35. 81-83.
6 Beide Zitate Die Annahmen der Linie, 76 und 79.
7 Martin Endres, Katharina Hinsberg: Ajouré, Wien und Raketenstation Hombroich: Das böhmische Dorf, 2015.
8 Katharina Hinsberg: Vorzeichnungen eines Bildes/Sketches Withdrawn. Katalog zur Ausstellung Interpunktionen. Saarlandmuseum – Moderne Galerie, Saarbrücken, 20. Juni 2019 bis 7. Juni 2020, Bielefeld/Berlin: Kerber Verlag, 2020, 3.
9 Ebd., 36.
10 Sabine Mainberger: Linien – Gesten – Bücher. Zu Henri Michaux, Berlin/Boston: De Gruyter, 2020, 144.
11 Katharina Hinsberg: Perceiden, Kunstmuseum Stuttgart/ Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz/ Birmingham Museum and Art Gallery, Wien und Raketenstation Hombroich: Das böhmische Dorf, 2012, o. P.
12 2019, Kunsthalle Göppingen. http://www.katharina-hinsberg.de/de/works/ansicht/ich-moechte-eine-lini…
13 Vgl. „…. tabulam …. inani similem et eo ipso allicientem…“ Plinius d. Ä.: Historia naturalis 35.83.